Am Freitag war Vollmond und die Nacht rief nach mir |
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Diese 100 km-irgendwann-mußt-Du-nach-Biel-Idee hat sich schon Ende April/Anfang Mai 2002 in meinem Kopf festgesetzt, damals habe ich sie aus reinen Vernunftsgründen nicht in die Tat umgesetzt. Aber dieses Jahr habe ich gezielt auf die Nacht der Nächte hintrainiert und so kam, was denn endlich auch kommen mußte: Freitag, der 13. Juni 2003! Schon am Mittwoch fuhren wir in die Schweiz. „Wir“, das waren außer mir Stephan und Sabine aus Stierstadt, die den 100er laufen bzw. auf dem Rad coachen wollten und meine (wohlgemerkt nichtlaufenden) Freundinnen Claudia und Matze, die sich, als sie von meinen Plänen hörten, beide spontan entschieden hatten, mich in dieser Nacht nicht alleine zu lassen. So war ausreichend Zeit, schon donnerstags völlig ohne Streß und Hektik die Startnummern zu holen und sich im zwischen den schon reichlich vorhandenen LäuferInnen heimisch zu fühlen, erste Schwätzchen mit Bekannten und Unbekannten zu halten und fremde Finishershirts zu bewundern. Der Freitag stand dann, nach einer extra nach hinten ausgedehnten Lesenacht, ganz im Zeichen der vorbereitenden Regeneration – und das war für mich kaum auszuhalten. Warten aufs Christkind und Godot zusammen. Nachmittags lag ich mit Tunnelblick auf dem Bett und starrte die Decke an, bis es endlich Zeit war, zum Eisstadion zu fahren. Ich wollte schon um 19 h unten sein, weil ich diese Vorstartatmosphäre richtig genieße – ich fühlte mich auch sofort irgendwie „angekommen“ und war mit einem Schlag deutlich ruhiger. Naja.. zumindest bis ca. 21.15 h, dann begann die last-minute-Hektik: Trinkgürteltasche schon mal umbinden, feststellen, daß sie so zu dick und unbequem ist, Windjacke raus, Shirt rein, Nüsse und Rosinen aus ihrem angestammten Beutel einfach so in die Tasche kippen und dabei die netten Spötteleien von Toni über mich ergehen lassen, außerdem noch Conny suchen und fragen „was zieh’ ich jetzt bloß an? Reicht mein Trikot?“ – der ganz normale Wahnsinn also. Pünktlich um 22 h entließ uns der Startschuß in die warme Sommernacht. 27° C am Start, maximale Abkühlung (Abkühlung?!) auf 18° - da wird’s selbst ohne Sonne nie auch nur annähernd kühl. Direkt vorm Start hatte ich zufällig Claudia und Hartmut aus Frickingen getroffen, aber die beiden waren sofort außerhalb meiner Sichtweite. Dafür lief mir Sylvia aus den Lauftreff-Foren über den Weg, mit der ich die ersten Kilometer gemeinsam zurücklegte. Kaum hatte sie Walters „50 km gehen irgendwie immer noch“ zitiert, standen er und Conny auch schon fotografierend vor uns – wenn man vom Teufel spricht.. J. In der Stadt war die Hölle los, Zuschauer dicht an dicht, so viele Fans auf einem Haufen bringt der Frankfurtmarathon höchstens in Höchst und an der Hauptwache auf die Beine. Kaum hatten wir die Stadt hinter uns gelassen, begann der Genuß für mich so richtig. Es war Vollmond, ich hatte mir eine einer Werwölfin würdige Nacht für mein 100 km-Debut ausgesucht. Der Mond mit seinem wunderschönen Hof gab so viel Licht, daß ich die Stirnlampe völlig unnötig mit mir rumschleppte. Ich lief ein angenehmes Zuckeltempo (Schnitt? Keine richtige Ahnung, nach den guten Erfahrungen im Emmental vor 3 Wochen hatte ich keine Uhr dabei. Aber bei km 15 waren wir nach ca. 2 h, wie ich aus um mich rum geführten Gesprächen mitbekam) und fühlte mich einfach nur wohl. Leicht irritiert war ich allerdings in Aarberg. Die Holzbrücke sollte, so war mir versprochen worden, voller Leute stehen, der Marktplatz ebenfalls und die Stimmung sei phantastisch. Tja.. aber nicht mehr „bei uns da hinten“ – da war die Brücke nämlich fast menschenleer und die einzigen der vielen Menschen, die den Marktplatz tatsächlich noch bevölkerten, die richtig Stimmung verbreiteten, war eine Gruppe Hopp-Hopp-Ruferinnen, die auch gehörig Szenenapplaus aus Läuferreihen dafür kassierten. Der Rest war mehr oder weniger Schweigen. An der Verpflegungsstelle traf ich zum ersten Mal Claudia und Matze, aber mehr als ein kurzer Zuruf war nicht drin, ich wollte weiter, raus in die Nacht. In Aarberg stießen auch die Radfahrer zu den Läufern, aber im hinteren Drittel waren das nicht mehr so vielen, so daß meine anfänglichen Befürchtungen, durch die Radfahrer käme Chaos auf die Strecke, völlig unbegründet waren. Und ein Gutes hatte der Radtroß in der Dunkelheit: schon von Weitem konnte ich vor mir liegende Steigungen gut ausmachen, die wie an einer Kette aufgereihten Rücklichter wiesen mir den Weg bergauf. Unterwegs hatte ich eine angenehme Mischung aus Unterhaltungen und Ruhe, obwohl das Feld in den ersten Stunden noch relativ dicht war. Ich lief, genoß, flirtete mit dem Mond – und wartete so ganz nebenbei auf die Müdigkeit. Aber die kam nicht. Mir ging’s einfach nur gut, ich nahm mir an jeder Verpflegungsstelle reichlich Tankzeit, an der bei km 29 sogar noch zusätzliche Radiohörzeit: die emsigen HelferInnen hatten einen Ghettoblaster stehen, dessen Lautsprecher gerade ein Interview mit Conny in die warme Nachtluft übertrugen. Das konnte ich mir ja nun nicht entgehen lassen! Claudia und Matze reisten entlang der Strecke durch die Nacht, sie standen bei km 26, 36, 46 und 55, bevor ich im Ho-Tschi-Minh-Pfad verschwand – und sahen deutlich müder aus, als ich mich fühlte. Bis km 55 war es dann schon hell, irgendwann hatte es angefangen, mit jedem Schritt heller zu werden, die Vögel fingen an zu singen, der Mond ging rot hinter einem Waldstück unter, die Sonne brauchte noch eine Weile für ihre Morgentoilette und so lag ein Dunstschleier über den Feldern und Wäldern, im Acker vor Kernenried (ca. km 54) wurden gerade 2 Heißluftballons startklar gemacht. In Kernenried wechselte ich noch schnell die Klamotten, es tat trotz allem gut, mal wieder in trockene Tücher zu kommen. Und dann ging’s hinter Kirchberg (schade, der in Aussicht gestellte Blick auf die Berner Alpen blieb mir hinterm Morgendunstschleier vorenthalten) auf den Pfad der Pfade in der Nacht der Nächte. Offenbar liefen wir wieder einen eigentlich längst eingemotteten Teil des Ho-Tschi-Minh-Pfades, aber der war genau so, wie ich mir das aus alten Berichten abenteuerlich zusammenphantasiert hatte: dicht bewachsen, dunkel (ja, selbst jetzt, als es „draußen“ schon hell war, hatte das Tageslicht hier nur bedingt Zutritt), wurzelig, steinig, holprig. Ich war schon mehr als 8 h auf den Beinen und so legte ich die ärgsten Passagen wandernd zurück, das war auf jeden Fall stolperunanfälliger als zu laufen. Und die ganze Zeit beherrschte mich der Gedanke „zum Glück mußte ich hier nicht nachts durch“. Die Begleitradfahrer wurden hier eigentlich auf einen breiteren Parallelweg umgeleitet, aber bei uns kümmerte sich niemand mehr um sie, die Ausweichstrecke blieb unbefahren. Am Ende des Pfades, bei km 70, ließ ich mir erst mal die ein wenig müden Beine massieren und machte mich dann, noch immer frohgemut, auf den Weg, auch noch die letzten 30 km hinter mich zu bringen. Ich verließ den Wald, begrüßte die Sonne – und die bedankte sich dafür, indem sie meine Akkus in Minutenschnelle völlig leersaugte. „Rien ne va plus“ – nichts ging mehr. Meine Arme schliefen bis hinauf in die Oberarme ein (und das sollte sich auch erst geraume Zeit nach dem Zieleinlauf wieder geben) und mein Mund wurde schneller trocken, als ich diverse Getränke nachkippen konnte. Bei km 73 wartete Claudia auf mich und zum ersten Mal setzte ich mich kurz zu ihr, um ein Schwätzchen zu halten und mich aufbauen zu lassen. Von nun an ging’s zwar auf der Strecke wieder bergauf, aber mit mir stetig bergab. Kurze Zwischenhochs bestätigten diese Regel. Ich war jetzt wirklich völlig bedient und fing an, laut und leise vor mich hinzufluchen (je nachdem, ob mich jemand hätte hören können oder nicht, inzwischen war’s nämlich teilweise recht einsam geworden im Feld). Sogar das km 80-Schild mußte dran glauben und sich von mir beschimpfen lassen („nicht mal mehr ein Halbmarathon, das schaffe ich doch eigentlich spielend, warum muß das jetzt hier anders sein?“). Vorher hatte mir freundlicherweise aber noch Rainer aus Mainz, der seine Freundin Christine auf dem Rad begleitete, Wasser gegeben, damit ich mein erstes Squeezy angewidert runterspülen konnte. Das Cola in meinem Trinkgürtel erschien mir, warum auch immer, wenig brauchbar dafür und Rainer gab mir den Rat, mit dem Colatrinken lieber aufzuhören, offenbar hätte ich viel zu früh damit angefangen. Ich stieg dann um auf Buffer, den mir Claudia und Matze zwischendurch gaben, und Wasser. Die arme Matze mußte sich auf dem Gipfel meines Unmuts bei km 79 auch noch anraunzen lassen, weil sie ein Foto von mir machen wollte. Zum Glück ist sie hart im Nehmen! Den Berg runter nach Arch (km 85) lief ich wieder, die Steigung vorher lag im Schatten, mir war vorübergehend nicht mehr ganz so heiß und bergab konnte ich es ein bißchen rollen lassen. Welche Wohltat! So habe ich es sogar noch mal geschafft, 8 km in einer Stunde zurückzulegen. Das sollte sich aber nach Arch schlagartig wieder ändern. Alles in allem habe ich für die letzten 17,8 km (zwischen dem letzten Kontrollpunkt in Gossliwil und dem Ziel) 3 Stunden und 47 min gebraucht. SO hatte mir meinen ersten 100er nicht vorgestellt! Noch bei km 86 lief (!) ich an Hans-Joachim und Christa aus Saarbrücken vorbei, denen ich erleichtert zurief „nur noch 14 km, ein Pillepalle-Trainingslauf, wie wir ihn oft machen, gleich ist es geschafft“ – Hans-Joachim meinte später, als die beiden mich wieder überholten, nur „na, ganz so einfach ist es mit den 14 km wohl doch nicht“. WIE recht er hatte! Der ganze Frust suchte sich in der Ziegelei in Pieterlen, der vorletzten Verpflegungsstelle bei km 93,5 und damit am Ende des 8 km langen Zickzackkurses durch freies schattenloses Feld, seinen Ausgang und ich saß weinend ca. eine Viertelstunde im Schatten, getröstet von Matze, den Mädels der Verpflegungsstelle und vorbeikommenden LäuferInnen. Ein freundlicher Läufer vom Lauf- und Marschierverein Emmental wollte mich sogar mitnehmen, sah dann aber, daß ich erst mal außer Bewegungsgefecht gesetzt war und mich beruhigen mußte, bevor’s weitergehen konnte. Aber selbst hier habe ich (komischerweise?!) nicht übers Aufhören nachgedacht – im Gegenteil, auf Nachfrage der Helferin, ob denn mein erster Hunderter auch mein letzter sei, kam ein klares „nein, aber bei so einer Witterung laufe ich hier mit Sicherheit nicht mehr“. Claudia spazierte mit mir durch ein schattiges Waldstück bis zur letzten Verpflegungsstelle bei km 96,5 und entließ mich dann auf die letzten 3,5 km freies Feld. Ich trank und trank – und mußte alle paar Minuten ins Gebüsch (das längst schon einfach dem Wegesrand Platz gemacht hatte), weil mein Körper die viele Flüssigkeit, die ich oben gegen Trockenheit nachkippte, gar nicht mehr aufnehmen konnte. Bei km 97 oder 98 holte mich Andreas Treiber aus Heidelberg ein, mit dem ich zusammen die letzten Kilometer zum Ziel erwanderte. Waren wir bei km 99 noch der Meinung, keinen Schritt mehr laufen zu können, änderte sich das denn doch noch ein paar Hundert Meter vor dem Ziel und zusammen liefen wir über die erlösend piepsende Zielmatte. Immerhin heißt unser geliebter Sport ja „laufen“ und nicht „spazieren gehen“, oder?! Der freundliche Emmentaler wartete sogar im Zieleinlauf auf mich, um mir zu gratulieren – das konnte er aber erst, nachdem ich Matze und Claudia ausreichend um den Hals gefallen war. In der Halle konnte ich mir dann die sogenannte „Auszeichnung“ abholen: eine Medaille UND – oh Glückes Geschick - zum wohl ersten Mal gab’s in Biel ein Finisher-Shirt!!! Ein Funktionsshirt, das ich sicher nicht beim Laufen verschwitzen werde. Die ersten Regentropfen fielen übrigens 2 min vor meinem Zieleinlauf und kaum war ich in der Halle, brach draußen ein Unwetter los, das sich gewaschen hatte. Das dürfte einige derer, die nach mir kamen, ziemlich überrascht haben, aber es brachte ihnen wohl auch die ersehnte Abkühlung. Jetzt, the day after, geht’s mir blendend, meine Beine mucken so gut wie gar nicht, Muskelkater hat erstaunlicherweise gar nicht eingestellt – aber ich habe gestern zum ersten Mal nach einem Lauf das Rückwärts-geht-es-sich-bergab-bedeutend-besser-Gefühl kennenlernen dürfen, weil meine Bänder in den Füssen keine Bewegung mehr zulassen wollten. Ich habe 100 km am Stück zu Fuß zurückgelegt und es gibt Momente, in denen ich das noch gar nicht so richtig glauben kann. Heute auf der Autobahn trafen wir noch die „Bieler“ Ingrid und Harald aus Heilbronn – die beiden hatten ihre Startnummern ins Rückfenster geklebt und ich meine Medaille um, so hatten wir uns schnell verständigt und winkten uns ein paar Mal mit hoch erhobenen Daumen zu – ein wirklich witziges Ende eines ereignisreichen Wochenendes. Ein paar „Dankes“ möchte ich schon gerne noch loswerden, sie sind mir wichtig. Das erste bekommen natürlich Claudia & Matze ab. Ihr Zuspruch war vor allem im langen Tal der Tränen sehr wichtig für mich (daß man diesen toll organisierten Lauf auch gut ohne persönlichen Support schaffen kann, ist eine Sache – die freundschaftlichen Aufmunterungen sind eine andere). Je eins geht an Micha Krüger, Toni Bossard und Conny Wagner, die mir vor allem im Vorfeld geduldig meine vielen Fragen beantworteten und mir viele gute Tips geben konnten. Und ein globales geht an die vielen Daumendrücker – Ihr seht, es hat geholfen. Das Ergebnis (16:03 h) ist unwichtig, die Parole hieß „ankommen“!
Mehr Infos gibt's unter www.100km.ch
für laufreport im Juni 2003 |
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