Der Berg ruft!

Der Jungfrau-Marathon nimmt einen schon gefangen, sobald man Interlaken erreicht: an jeder Ortseinfahrt ein Transparent „Welcome runners“, in der Stadt überall Hinweise auf den samstäglichen Lauf – und der erste Mensch, den ich bei meiner Ankunft bewußt in den Straßen wahrgenommen habe, war ein rennender Pressechef Jürg Schüpach. Wenn das mal kein gutes Omen sein sollte...

 

Der Lauf beginnt eigentlich schon am Freitag: ab 13.30 h kann man im Kasino Startunterlagen abholen, dann ein bißchen faul auf der Wiese vorm Springbrunnen rumliegen und die ersten Blicke gen Jungfraujoch schweifen lassen, draußen auf der Straße den Kindern bei ihren Läufen zugucken und am frühen Abend im Saal bei Musik und vielen Gesprächen Pasta futtern. Wie vor jedem Marathon findet auch hier ein „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ statt. Man zeigt, was man hat, bzw. was man schon gelaufen ist, indem man die Finishershirts vergangener Läufe spazieren trägt. Was mir dabei in Interlaken immer besonders auffällt, ist der hohe Anteil an Shirts vergangener Jungfrau-Marathons – und da es seit 2002 Funktionsshirts gibt, sieht man diese durchaus auch sehr häufig am Renntag auf der Strecke. Jedenfalls macht’s viel Spaß, den anderen auf Bauch und Rücken zu gucken, auch, um sich Anregungen zu holen für kommende Schandtaten.

 

Anfang der Woche verhießen sowohl der Dt. Wetterdienst als auch Meteoschweiz noch viel Gutes für den Samstag im Berner Oberland: 26 Grad sollten es werden, blauer Himmel, dazu viel Sonne – Kaiserwetter war angesagt. Daß sich das Wetter nicht immer an das hält, was es da vorgegeben bekommt, ist genauso bekannt wie die Tatsache, daß es in den Bergen schneller zu Wetterumschwüngen kommen kann, als manch einer glauben mag und so passierte, was passieren mußte: nachdem es schon am Freitag gräulich-bedeckt war, ging am Samstag einmal mehr gar nichts mehr in Sachen Sonne und Fernblick. Im Gegenteil: es regnete. Zwar noch nicht am Start, aber dann unterwegs und nicht zuletzt im Ziel auf der Kleinen Scheidegg. Eiger, Mönch & Jungfrau als Belohnung und Augenschmaus für erschöpfte Marathonis? Fehlanzeige!

 

Dem Jungfrau-Marathon mit seiner inzwischen 11jährigen Tradition hängt nach wie vor das Attribut „schönster Marathon der Welt“ an und um dies zu untermauern, hatte man im Jahr 1 nach Ex-OK-Chef Heinz Schild ein bißchen an der Streckenführung gefeilt. Nach dem Startschuß um 8.45 h wurden die Läufer wie immer auf eine erste Runde durch Interlaken (565 m üNN) entlassen, allerdings führte diese nicht mehr über die Stadtgrenze hinaus nach Unterseen. Über Stadt- und Landstraße geht’s weiter ins benachbarte Bönigen und dann entlang des Militärflughafens und in Blickweite des neu eingeweihten Mystery Parks weiter nach Wilderswil, wo bei km 10 bereits die 2. Verpflegungsstelle zu finden ist. Über Wilderswil hing eine dicke schwarze Wolke, die sich pünktlich zur Ankunft der LäuferInnen entlud, aber kaum waren die schöne alte Holzbrücke überquert und der erste Anstieg Richtung Ortsausgang und Gsteigwiler geschafft, war die Straße wieder trocken. In jedem Ort, und sei er auch noch so klein, nehmen die Bevölkerung und angereiste Zuschauer regen Anteil am Geschehen auf der Strecke, es gab in diesem Jahr so viele Musikbands (vorzugsweise Guggemusik) und Kuhglockengeläuttruppen wie nie zuvor. Manchmal war die Lautstärke fast an der Grenze des Erträglichen und man war froh, wieder in die Natur „entlassen“ zu werden.

 

Unterwegs kam man manchmal aus dem Wundern und Staunen gar nicht heraus, auch wenn die Aussicht fehlte. Da tragen Läufer ihre Gelpäckchen, Riegel und sonstige Verpflegung 20, 30 oder gar fast 40 km in der Hand oder einer Tasche mit sich rum und sind dann nicht in der Lage, die geleerte Verpackung auf demselben Weg weiter mitzunehmen bis zur nächsten Versorgungsstelle oder dem nächsten Papierkorb an einer der Bänke entlang der Strecke. Man fährt in die Berge zu einem Landschaftslauf – und wirft seinen Müll trotzdem einfach da ab, wo er gerade entsteht. Paradoxer geht’s wohl wirklich kaum noch.

 

Bis zum Halbmarathon in Lauterbrunnen haben die Läufer gerade mal 245 Höhenmeter zurückgelegt, um die Kl. Scheidegg zu erreichen, müssen es aber 1.829 werden, jetzt heißt es also: von nun an geht’s bergauf! Nach einer noch flachen Umrundung des Campingplatzes in Lauterbrunnen, an dem der Schilthorn-Inferno-Halbmarathon gestartet wird und wo abends nach dem Jungfrau-Marathon eine große Marathonparty stattfindet, lassen die letzten Meter auf Lauterbrunner Boden schon erahnen, was jetzt kommt: der lange Anstieg nach Wengen. Kurz hinter dem gelben Schild mit der Aufschrift „km 26“ beginnen sie, die berüchtigten Serpentinen, die knapp 400 Höhenmeter auf gut 2 km überbrücken. Und ab hier haben sich die Organisatoren eine kleine neue „Gemeinheit“ einfallen lassen: nicht mehr jeder Kilometer ist ausgeschildert, sondern alle 250 m steht ein Schild, das anzeigt, wie weit (oder besser: wie wenig) man vorangekommen ist. Diese Neuerung begleitet die LäuferInnen bis hinauf ins Ziel und an ihr scheiden sich wohl die Geister. Der Eine empfindet es als Wohltat, auf den langen Steigungsstücken nicht nur alle 8-15 min mal ein Schild zu Gesicht zu bekommen, der Andere ist eher genervt von dem Gedanken, nur ¼ km seit dem letzten Schild zurückgelegt zu haben. Wenn man dann noch bedenkt, daß bei anderen Landschaftsläufen nur jeder 5. km ausgeschildert ist....

 

In Wengen am Bahnhof wird bei km 30,6 die zweite Zwischenzeit genommen und weiter geht’s erst mal nur bergauf bis zur Wengernalp bei km 38,3. Auf einem kurzen Stück von 300 m kann man es erst mal bergab zur Skistation Wixi rollen lassen, bevor der im Streckenprofil blau als Bergweg gekennzeichnete Aufstieg zum höchsten Punkt der Strecke, dem Eigergletscher auf 2.205 m beginnt. Und hier werden jetzt die Meter, die man sich morgens nach dem Start gegenüber der alten Strecke gespart hat, nachgeholt. Statt von der Wixi aus links über die Wiese zur Moräne aufzusteigen, biegt man erst mal rechts ab, um einen zusätzlichen „Hügel“ aufsteigend zu umrunden. Über diesen neuen Streckenteil hörte man später im Ziel auch sowohl Gutes als auch Schlechtes. Die Urteile reichten von „härter“ über „zermürbender“ bis hin zu „viel flüssiger zu laufen“. Jeder Jeck ist halt anders.

 

Nach wie vor steht der Dudelsackpfeifer in original schottischer Uniform oben auf der Moräne und pfeift den Läufern was, bevor diese den abschüssigen und aufgrund der Witterung auch sehr rutschigen letzten Kilometer Richtung Ziel unter ihre Füße nehmen.

 

Die Siegerehrung findet, nach einer Schnellehrung bereits um 13.30 h, abends wiederum im Saal des Kasinos statt. Aufgrund der hohen Anmeldezahlen der letzten Jahre wurde 2003 die Zahl der ausgegebenen Startnummern erstmals von 3.500 auf 4.000 erhöht und damit kommt die Veranstaltung deutlich an ihre Grenzen. War der Bahnhof auf der Kl. Scheidegg schon in früheren Jahren völlig überfüllt und das Gedränge beim Versuch, eine Bahn zu erwischen, riesig, so waren dieses Jahr die Wartezeiten bis zur glücklichen Ergatterung eines (Steh)Plätzchens in den zum Bersten brechend vollen Zügen teilweise unerträglich lang. Selbst wenn man nicht als letztes von der Kl. Scheidegg gefegt wurde, hatte man Probleme, die Siegerehrung überhaupt noch zu erreichen, denn 1,5 Stunden muß man schon einplanen, bis man wieder in Interlaken ankommt.

 

Überlegener Sieger 2003 war der bei den Bergläufen der letzten Monate schon dominante Kiwi Jonathan Wyatt. Der sympathische Neuseeländer überließ die Sprintwertung beim Halbmarathon noch Vorjahressieger Tesfaye Eticha und setzte seine Streckenrekordserie, die er bei seinen Siegen beim Sierre Zinal und beim Matterhornlauf begonnen hatte, auch auf dem Weg zur Kl. Scheidegg fort. Mit der phantastischen Zeit von 2:49:01 h unterbot er die alte Bestmarke aus dem Vorjahr gleich um 4 min und 27 sec. Auf meine Frage, wie er die Strecke quasi im 4er Schnitt zurücklegen und diesen großen Sprung beim Streckenrekord „hinlegen“ konnte, meine er nur lachend, er habe so viel Energie gehabt, da sei er einfach gelaufen und es lief gut, er kam auch noch im Trockenen im Ziel an. Nach Interlaken will er 2004 allerdings nur kommen, wenn er sich nicht für die Olympischen Spiele in Athen qualifizieren kann. In Deutschland wird er am 05.Oktober zum Grand-Prix-Finale beim 30. Int. Hochfellnberglauf antreten, danach will er ein paar Läufe in Kanada absolvieren und dann zum neuseeländischen Sommer wieder zurückfliegen in die Heimat. Die 10.000 CHF Siegprämie und zusätzlich noch mal 500 CHF Prämie für den neuen Streckenrekord hat er sich jedenfalls redlich verdient an diesem Samstag.

 

Zweiter wurde der in Genf lebende Vorjahressieger Tesfaye Eticha , der das OK-Komitee erst dieses Jahr darüber aufklärte, daß man seinen Namen in der Vergangenheit verdreht und den Vor- zum Nachnamen gemacht hatte. Er brauchte 3:01:45 h bis ins Ziel, in Lauterbrunnen lag er noch vor Wyatt, aber nur eine einzige Sekunde. Gut 2 min nach ihm kam Zermatt-Marathon-Sieger Billy Burns aus Großbritannien nach 3:04:01 h auf der Kleinen Scheidegg an. Bester Deutscher war Stefan Tassani-Prell auf Piding auf Platz 10.

 

Gar 6 min Vorsprung rettete Siegerin Emebet Abosa ins Ziel, sie brauchte 3:21:46 h und verpaßte damit den Streckenrekord von Marie-Luce Romanens aus dem Jahr 2001 nur um 45 sec. Zweite wurde eine Schweizerin, deren Namen immer ganz oben in den Ranglisten zu finden ist: Zermatt-Siegerin Carolina Reiber aus Zürich lag beim Halbmarathon noch auf Platz 3 und arbeitete sich auf der zweiten Streckenhälfte noch auf den zweiten Platz vor, nahm dabei der Dritten Tsige Worku aus Äthiopien fast 8 min ab. Carolina erreichte das Ziel nach 3:27:39 h, Tsige nach 3:31:46 h, nachdem sie in Lauterbrunnen noch gleichauf lag mit ihrer Landsfrau Emebet Abosa. Beste Deutsche auch eine alte Berglauf-Bekannte: Julia Alter belegte nach ihren zweiten Plätzen in Zermatt und bei Défi einen sehr guten 8. Platz, war damit und mit ihrer Zeit auch sehr zufrieden und verabschiedete sich von Interlaken aus erst mal in den wohlverdienten Urlaub. Am 12. Oktober will sie beim Napf-Marathon im Emmental starten, wo auch ihre Mutter nach einer Verletzungspause wieder ins Marathongeschehen eingreifen will.

 

Hinter Julia kam die Schweizerin Jacqueline Keller als Gesamt-9. ins Ziel. Jacqueline war über ihren dritten Platz in der Schweiz-internen Wertung (zwischen ihr und Carolina Reiber lag noch Elisabeth Krieg auf Rang 7) sehr glücklich und meinte nur „was will man mehr“.

 

Zweiter in der M60 wurde einer, dem Bergläufe eigentlich gar nicht liegen: Siegfried Reichert vom TV Tannheim lief bei seinem dritten Jungfrau-Marathon nach 1999 und 2001 nach 4:17 h über die Ziellinie. Wenn er dann allerdings erzählt, daß er dieses Jahr noch gar keinen flachen Marathon gelaufen ist sondern bisher nur in Liechtenstein und Zermatt, dann muß er selbst schmunzeln. Jedenfalls wurde mit seinem 2. AK-Platz schon der Grundstein für eine Teilnahme 2004 gelegt, denn er gewann einen Hotelgutschein, der nur bis Oktober nächsten Jahres Gültigkeit hat.

 

W60erin Rosemarie Marolf aus Biel, die dort im Juni ihren 16. Heimat-Hunderter gelaufen war, erreichte nach ihrem Abbruch im Vorjahr das Ziel in 6:27 h. Unterwegs hatte sie mir verraten „wenn ich heute ankomme, melde ich nächstes Jahr nicht mehr, mir reicht es dann mit diesen Bergläufen“. Mal sehen.. man soll ja bekanntlich nie nie sagen, vielleicht trifft man sich ja doch im Jahr 2004 wieder, wenn es in Interlaken zum 12. Mal heißen wird DER BERG RUFT.

für laufreport im September 2003